Auszug aus dem Buch "Mikrophysik der Macht. Michel Foucault über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin." Seite 83-92 (Merve Verlag Berlin)
DIE GESELLSCHAFTLICHE AUSWEITUNG DER NORM
Ein Gespräch mit Pascale Werner
FRAGE: Stellt Thomas S. Szasz' "Die Fabrikation des Wahnsinns" (Freiburg/Olten 1974) die Geschichte des Wahnsinns in Frage, die Sie vor 15 Jahren geschrieben haben? Während Sie die Linie vom Aussätzigen zum Geisteskranken ziehen, verfolgt Szasz die Linie von der Hexe zum Irren. Wie vereinigen sich diese beiden Zweige in einem gemeinsamen Stamm ?
M. FOUCAULT: Tatsächlich habe ich in "Wahnsinn und Gesellschaft" überhaupt nicht vom Problem des Hexenwesens gesprochen. Ich mißtraute einem Thema, das man regelmässig bei den oberflächlichen Historikern findet: nämlich der Idee, daß man die Irren seinerzeit für Hexer hielt, weil man unfähig war, sie als Kranke zu erkennen, bis dann die Ärzte mit ihrer Gewissenhaftigkeit und Wissenschaftlichkeit die Hexerei als verkannte Geisteskrankheit aufdeckten, um die Hexen fürderhin nicht mehr zu verbrennen, sondern zu behandeln. Ich wollte nach meinem ersten Buch zunächst diesen Mythos zerstören, dann...
Das Interessante an Szasz' Buch liegt nicht darin, daß er sagt: der Irre war früher der Hexer, oder der einstige Hexer ist der heutige Irre. Er sagt etwas historisch und politisch viel Wichtigeres: die Praxis, mit der man bestimmte Leute ausfindig machte, mit der man sie verdächtigte, isolierte, verhörte, mit der man sie als Hexer diagnostizierte - diese Machttechnik, die in der Inquisition zur Anwendung kam, findet man transformiert in der psychiatrischen Praxis wieder. Der Irre ist nicht der Sohn der Hexe, sondern der Psychiater ist der Nachfahre des Inquisitors. Szasz schreibt seine Geschichte auf dem Niveau der Machttechniken, nicht auf der Ebene der pathologischen Identität. Es ist nicht der Kranke, der nachträglich die Wahrheit des Hexers enthüllt; es ist die Hexenverfolgung, die auf die Wahrheit der Psychiatrie vorausweist. Szasz interessiert sich für die Erkennungs- und Vernehmungstechniken. Ich habe mich für die sozio-polizeilichen Isolierungstechniken interessiert. Die beiden Geschichten sind nicht unvereinbar, im Gegenteil.
F.: Zumal Sie ja beide der Medizin einen zentralen Platz in den Mechanismen der gesellschaftlichen Unterdrückung zuweisen. Was bedeutet das für die Strategie der Macht?
M. F.: Wir sind in einen Gesellschaftstyp eingetreten, in dem die Macht des Gesetzes dabei ist, zwar nicht zurückzugehen, aber sich in eine viel allgemeinere Macht zu integrieren, nämlich in die der Norm. Schauen Sie, wie schwer er heute der Strafjustiz fällt, den Akt zu vollziehen, für den sie eigentlich geschaffen ist, nämlich ein Urteil zu fällen. Anscheinend weil die Bestrafung eines Verbrechens keinen Sinn mehr hat, setzt man den Verbrecher immer mehr mit einem Kranken gleich, und die Verurteilung möchte als eine therapeutische Vorschrift gelten. Das ist charakteristisch für eine Gesellschaft, die sich von einer wesentlich am Gesetz orientierten Rechtsgesellschaft zu einer wesentlich an der Norm ausgerichteten Gesellschaft entwickelt.
Das setzt ein ganz anderes Überwachungs- und Kontrollsystem voraus: eine unaufhörliche Sichtbarkeit und permanente Klassifizierung, Hierarchisierung und Qualifizierung der Individuen anhand von diagnostischen Grenzwerten. Die Norm wird zum Kriterium, nach dem die Individuen sortiert werden. Sobald sich nun eine Normgesellschaft entwickelt, wird die Medizin, die ja die Wissenschaft vom Normalen und Pathologischen ist, zur Königin der Wissenschaften. Szasz sagt darum, daß die Medizin die Religion des modernen Zeitalters ist. Ich möchte die Aussage etwas modifizieren: mir scheint, daß die Macht der Religion mit ihren Geboten, Gerichten und Bußen vom Mittelalter bis zum klassischen Zeitalter am Recht ausgerichtet war. Anstatt von einer Entwicklung Religion - Medizin spreche ich lieber von einer Entwicklung Recht - Norm.
F. : Inwiefern berührt die Kritik der Psychiatrie als Form der gesellschaftlichen Kontrolle die Medizin selber?
M. F.: Die Psychiatrie war eine der ersten Formen der Sozialmedizin im 19. Jahrhundert. Szasz' Geschichte der Psychiatrie deckt die gesellschaftliche Funktion der Medizin in einer Normalisierungsgesellschaft auf. Die Macht der Medizin steht nämlich im Zentrum einer derartigen Gesellschaft. Ihre Auswirkungen sind allgegenwärtig: in der Familie, in der Schule, in der Fabrik, in den Gerichten, ob
es sich um die Sexualität, die Erziehung, die Arbeit, das Verbrechen handelt. Die Medizin ist zu einer allgemeinen gesellschaftlichen Funktion geworden, die das Recht durchdringt und in Gang hält. Es konstituiert sich so etwas wie ein juristisch-medizinischer Komplex, der gegenwärtig die wesentliche Form der Macht ist. Aber was der Medizin - im Gegensatz zur Religion - zu einer solchen Durchschlagkraft verhilft, ist ihre Zugehörigkeit zur Institution der Wissenschaft. Man darf sich nicht damit begnügen, die Disziplinarwirkungen der Medizin aufzuzeigen. Wenn die Medizin als Mechanismus der sozialen Kontrolle funktioniert, so weist sie doch auch andere Funktionsweisen auf, nämlich technische und wissenschaftliche. Darum geht es nicht an, von der Medizin und der Psychiatrie in einem Atemzug zu sprechen, da diese mit dem wissenschaftlichen Wissen höchstens ein imaginäres Verhältnis hat. Die Kritik kann nicht auf ein und derselben Ebene liegen.
F.: Wie weit führt eine historische Analyse des Wahnsinns? Szasz analysiert die gesellschaftlichen Produktionsmechanismen der Geisteskrankheit. Er stellt nicht die Frage nach dem Wahnsinn.
M. F.: Wenn der Wahnsinn nicht die in einem nosologischen Tableau klassifizierte Geisteskrankheit ist, sondern eine eigene Wirklichkeit hat, die nicht zu pathologisieren oder medizinisieren ist, so stellt sich die Frage: was ist der Wahnsinn? Die Antipsychiatrie hat sich gerade mit dem zu konfrontieren, was nicht in den Begriffen der Geisteskrankheit oder der gesellschaftlichen Normativität zu fassen ist, was aber gleichwohl ein Problem darstellt. Die Antipsychiatrie stellt innerhalb des ärztlichen Apparates und Bewußtseins die Verarztung des Wahnsinns in Frage. Gerade deswegen tritt die Frage des Wahnsinns nach seiner langen Kolonisierung durch Medizin und Psychiatrie wieder an uns heran. Wie sollen wir uns dazu stellen?
Die überstürzt gauchistischen Diskurse sind ebenso wie die lyrisch antipsychiatrischen und die sorgfältig historischen Diskurse allesamt nur unvollkommene Haltungen gegenüber diesem glühenden Brandherd - gerade wenn sie von der Illusion getragen sind, daß von da aus die "Wahrheit", unsere armselige Wahrheiten in einer verzehrenden Flamme aufleuchten könnten. Es ist eine Illusion zu glauben, daß der Wahnsinn - oder die Delinquenz oder das Verbrechen - von einem absoluten Außen her zu uns spricht. Nichts ist unserer Gesellschaft und ihren Machtwirkungen innerlicher als das Unglück eines irren oder die Gewalttätigkeit eines Kriminellen. Man ist eben schon darinnen, und das Draussen ist ein Mythos. Das von draußen kommende Wort ist ein Traum, an dem man hartnäckig festhält. Man weist den "Wahnsinnigen" die Außenseiterrollen des Künstlers oder des Monsters zu. Dennoch sind sie in einem Netz gefangen, werden und wirken sie innerhalb der Systeme und Strategien der Macht.
F.: Ist unter diesem Gesichtspunkt die historische Analyse nicht eine Rückzugsposition? Und ist nicht diese Rückzugsposition für die blinden Flecken in der Praxis und Theorie von Szasz - etwa hinsichtlich der Psychoanalyse - verantwortlich?
M. F. : Zunächst, ist daran zu erinnern, daß ohne die Psychoanalyse keine Kritik der Psychiatrie, nicht einmal die historische, möglich gewesen wäre. Dann aber muß gesagt werden, daß die Psychoanalyse nicht nur in den Vereinigten Staaten in massiver Form als medizinische Praxis wirkt. Auch wenn sie nicht immer von Ärzten praktiziert wird, so funktioniert sie doch als Therapie, als medizinischer Eingriff. Und insofern ist sie ein Stück des medizinischen Kontrollnetzes, das sich überall etabliert. Gewiß hat die Psychoanalyse auf einem anderen Niveau eine kritische Rolle gespielt - ebenso unzweifelhaft ist, daß sie im Gleichschritt mit der Psychiatrie funktioniert. Dazu muß man unbedingt Robert Castels "Psychoanalyse und gesellschaftliche Macht" (Kronberg 1976) lesen, wo das psychiatrisch-psychoanalytische Netz so gut angeknüpft wird. Die Psychoanalyse muß kein blinder Fleck sein, vielmehr ist sie ebenso wie die Psychiatrie einer spezifischen historischen Destruktion zu unterwerfen.
Die andere Frage: besteht nicht in einer Periode, in der sich die Kämpfe beruhigt haben, die Versuchung zum Rückzug auf die historische Spekulation? Dazu meine ich, daß , sich die historische Analyse nicht auf einer Rückzugsposition befindet, sobald und solange sie auf einem politischen Feld eine instrumentelle Rolle spielt. Die historische Analyse ist ein Mittel, gegen die theoretische Sakralisierung, die wissenschaftliche Tabuisierung anzukämpfen. Man muß sie gegen die alte wie die neue Epistemologie ausspielen, in der es um die Frage ging, was in einer Wissenschaft der harte Kern der Wissenschaftlichkeit sei. Sie hat die Nichtwissenschaftlichkeit der Wissenschaft beim Namen zu nennen oder vielmehr - da das Problem Nichtwissenschaftlichkeit/ Wissenschaftlichkeit nicht das wesentliche ist - nach der Gewalt einer Wissenschaft zu fragen, danach, wie in unserer Gesellschaft die Wahrheitswirkungen einer Wissenschaft gleichzeitig Machtwirkungen sind.
F.: Was bedeutet für Sie der Widerspruch zwischen den theoretischen und den praktisch-politischen Positionen von Thomas S. Szasz?
M. F. : Es gab einmal eine Periode der "ideologischen" Kritik, in der man aufgrund eines mehr oder weniger versteckten Übels denunzierte, diagnostizierte, disqualifizierte. Wenn jemand sprach, wurde in seinem Vokabular, in dem, was er sagte, oder noch besser in dem, was er nicht sagte (im Ungesagten seines Diskurses), etwas ausfindig gemacht, womit man ihn dingfest machen und zum Schweigen bringen konnte. Die Kritik lebte vom Nachweis einer theoretischen Syphilis. Wenn sich dann jemand auf Nietzsche berufen wollte, fühlte er sich zur Erklärung verpflichtet, Nietzsche sei kein Antisemit gewesen.
Ich hingegen ziehe die Technik des geistigen Diebstahls vor. Die Gedanken und Diskurse organisieren sich zwar in Systemen, die allerdings als innere Machtwirkungen zu betrachten sind. Die Wahrheit eines Diskurses liegt nicht in seiner Systematizität, sondern in der Möglichkeit seiner Zersetzung, Umfunktionierung, Umpflanzung. Die historischen Analysen von Szasz können in eine antipsychiatrische Praxis eingehen. Szasz hat die tiefe Übereinstimmung zwischen den Kontrollfunktionen der Medizin und Psychiatrie auf der einen Seite und den seit dem 19. Jahrhundert installierten staatlichen Kontrollstrukturen auf der andern Seite genau wahrgenommen. Er scheint sich aber der Illusion hinzugeben, daß die liberale Medizin damit nichts zu tun hat, wo sie doch die Verlängerung dieser staatlichen Strukturen ist, ihr Stützpunkt und ihre Antenne.
F. : Mißfallen Ihnen nicht Szasz' Positionen über das "Potential der privaten Psychiatrie"?
M. F.: Das Problem des privaten Sprechzimmers bei Szasz ist ganz einfach: für ihn besteht die Irreführung der Psychiatrie darin, daß sie den Wahnsinn, das Leiden des Irren für eine Krankheit erklärt. Und daß sie damit dem Irren einredet, er brauche einen Arzt. Er will also sagen: "Wenn ich nicht als Arzt eingreifen will, wenn ich ein freies Gespräch mit einem freiwilligen Klienten nicht für eine ärztliche Handlung ausgebe, beteilige ich mich nicht an jenem Übergriff. Ich höre den Klienten an, ich befreie ihn vom pathologischen Schema; ich empfange ihn nicht als Kranken und ich präsentiere mich nicht als Arzt; ich verkaufe ihm nur meine Zeit, und er bezahlt mich aufgrund einer freien Vereinbarung."
Man könnte viel sagen gegen diesen Gedankengang und die von ihm legitimierten Gewinnmöglichkeiten. Es handelt sich um ein ausschließlich von Zweien gebildetes und strikt über Geld vermitteltes Zusammensein. Während die Psychiater ihren Klienten-Kunden die Rollen von Kranken teuer verkauften, verkauft Szasz Leuten, die sich für Kranke halten, die Nicht-Krankheit. Das Problem ist, ob Wertvolles immer verkauft werden muß.
Aus dem Französischen von Walter Seitter
HEXEREI UND WAHNSINN
Ein Gespräch mit Roland Jaccard
FRAGE: Seit etwa 20 Jahren entfaltet Thomas S. Szasz das Thema der grundlegenden Analogien zwischen der Verfolgung der Häretiker und der Hexen einstmals und der Verfolgung der Irren und Geisteskranken heute. Das ist auch das Hauptthema des Buches "Die Fabrikation des Wahnsinns", das den Übergang vom theologischen Staat zum therapeutischen Staat aufzeigt. Die Psychiater und überhaupt die für geistige Gesundheit Zuständigen haben es demnach fertiggebracht, die Inquisition wieder zum Leben zu erwecken und als neues wissenschaftliches Allheilmittel zu verkaufen. Scheint Ihnen die Parallele zwischen der Inquisition und der Psychiatrie historisch haltbar?
M. FOUCAULT: Die Hexen als verkannte Irre, die dem Scheiterhaufen überantwortet wurden, weil es unglücklicherweise noch keine Psychiater gab - wer wird uns von diesem Gemeinplatz befreien, der noch immer in so vielen Büchern herumspukt?
Szasz hat nun mit Recht darauf hingewiesen, daß die historische Kontinuität nicht von der Hexe zur Kranken, sondern von der Institution der Hexerei zur Institution der Psychiatrie geht. Es ist nicht so, daß die Hexe mit ihren armseligen Hirngespinsten und dunklen Kräften endlich durch eine späte aber wohltätige Wissenschaft als Geisteskranke erkannt worden ist. Szasz zeigt, daß sich in den Überwachungen, Vernehmungen und Verfügungen der Inquisition ein bestimmter Machttyp durchsetzte, der auch heute nach einigen Transformationen uns verhört, unsere Wünsche und Träume befragt, um unsere Nächte besorgt ist, Geheimnissen nachjagt und Grenzlinien zieht, die Anomalen kennzeichnet, Reinigungen vornimmt und Ordnungsfunktionen wahrnimmt.
Hoffentlich hat Szasz für immer das Problem von der Frage, ob die Hexen Wahnsinnige waren, auf die Frage verschoben, inwiefern die Machtwirkungen der Schnüffelarbeit, die die Inquisitoren (mit langen Schnauzen und spitzen Zähnen) verrichteten, noch im psychiatrischen Apparat zu erkennen sind. "Die Fabrikation des Wahnsinns" scheint mir ein wichtiges Buch für die Geschichte der komplexen Wissens- und Machttechniken.
F.: In "Die Fabrikation des Wahnsinns" beschreibt Thomas S. Szasz die unersättliche Neugier der Inquisitoren hinsichtlich der sexuellen Träume und Handlungen der Opfer, der Hexen, und vergleicht sie mit derjenigen der Psychiater. Scheint Ihnen dieser Vergleich gerechtfertigt?
M. F.: Man wird sich wohl der "Marcusereien" und "Reichianismen" entledigen müssen, da die uns einreden, daß die Sexualität von allen Dingen der Welt dasjenige sei, das von unserer "bürgerlichen", "kapitalistischen", "heuchlerischen", "viktorianischen" Gesellschaft am hartnäckigsten "unterdrückt" wird. Seit dem Mittelalter gibt es nichts, was mehr studiert, erfragt, zum Geständnis gezwungen, ans Tageslicht und in den Diskurs gezogen und in Lobpreisungen besungen wird. Keine Zivilisation hat eine gesprächigere Sexualität gehabt als die unsere. Und dennoch glauben viele noch immer, subversiv zu sein, wenn sie dem Geständniszwang gehorchen, der uns Menschen des Abendlandes seit Jahrhunderten unterwirft, indem er uns nötigt, alles über unser Begehren zu sagen. In Inquisition, Beichte, Gewissensforschung, Seelenführung, Erziehung, Medizin, Psychoanalyse und Psychiatrie - immer stand die Sexualität unter dem Verdacht, eine entscheidende und tiefe Wahrheit über uns zu bergen. Sag uns, was deine Lust ist, und verbirg uns nichts von dem, was sich zwischen deinem Herzen und deinem Geschlecht abspielt: dann werden wir wissen, was du bist, und dir sagen, was du wert bist.
Ich glaube, daß Szasz richtig gesehen hat, wie die hochnotpeinliche Vernehmung der Sexualität nicht einfach ein krankhaftes Interesse der von ihren eigenen Wünschen geplagten Inquisitoren war, sondern wie sich darin ein moderner Typ der Macht und Kontrolle über die Individuen abzeichnet. Szasz ist kein Historiker, und man kann natürlich einige seiner Behauptungen bestreiten. Aber in einem Augenblick, in dem der Diskurs über die Sexualität so viele Historiker fasziniert, war es gut, daß ein Psychoanalytiker das Verhör über die Sexualität historisch nachzeichnet. Und viele Intuitionen von Szasz treffen sich mit Le Roy Laduries bemerkenswertem "Montaillou, village occitan".
F. : Glauben Sie wie Szasz, daß man, um die institutionelle Psychiatrie - und alle anderen Veranstaltungen zur Förderung der geistigen Gesundheit - zu verstehen, die Psychiater studieren muß und nicht die angeblichen Kranken?
M. F.: Wenn es sich um das Studium der institutionellen Psychiatrie handelt, ist das selbstverständlich. Aber ich meine, daß Szasz weiter geht. Es ist heute Mode, eine Geschichte der Wahnsinnigen schreiben zu wollen, auf die andere Seite zu wechseln und den großen Fluchtbewegungen oder den subtilen Rückzugsbewegungen des Wahnsinns nachzugehen. Wenn man aber behauptet, ganz Ohr zu sein und die Wahnsinnigen selber sprechen zu lassen, akzeptiert man bereits die bestehende Grenzziehung. Besser stellt man sich an den Punkt, an dem die Maschine funktioniert, die Qualifikationen und Disqualifikationen verteilend die Wahnsinnigen und die Nichtwahnsinnigen voneinander absetzt. Der Wahnsinn ist nicht weniger ein Machteffekt als der Nichtwahnsinn; er streift nicht durch die Welt wie ein flüchtiges Tier, dessen Lauf erst in den Käfigen des Asyls zum Stillstand kommt. Wie in einer unendlichen Spirale ist er eine taktische Antwort auf die ihn umzingelnde Taktik. In einem andern Buch von Szasz, "Geisteskrankheit - ein moderner Mythos" (Freiburg/Olten 1972) gibt es ein Kapitel, das mir exemplarisch scheint: danach ist die Hysterie ein Produkt der psychiatrischen Macht und gleichzeitig eine Erwiderung auf sie und ihre Falle.
F.: Wenn der therapeutische Staat den theologischen Staat abgelöst hat und wenn die Medizin und die Psychiatrie heute die zwingendsten und hinterhältigsten Formen der sozialen Kontrolle geworden sind, wäre es dann in einer individualistischen und freiheitlichen Perspektive wie der von Szasz nicht notwendig, für eine Trennung von Staat und Medizin zu kämpfen?
M. F.: Da gibt es für mich eine Schwierigkeit. Ich frage mich, ob Szasz nicht die Macht zu eng mit dem Staat identifiziert.
Vielleicht erklärt sich diese Identifizierung aus zwei Erfahrungen von Szasz: einer europäischen Erfahrung im totalitären Ungarn, wo alle Machtformen und -mechanismen eifersüchtig vom Staat kontrolliert wurden, und jener amerikanischen Überzeugung, daß die Freiheit dort beginnt, wo die zentralisierte Intervention des Staates aufhört. Ich glaube tatsächlich nicht, daß die Macht nur der Staat ist oder daß der Nicht-Staat schon die Freiheit ist. Szasz hat recht, wenn er sagt, daß die Schaltkreise der Psychiatrisierung und Psychologisierung, auch wenn sie über die Eltern oder die unmittelbare Umwelt laufen, schließlich in den großen Komplex aus ärztlichen und staatlichen Institutionen münden. Aber der "freie" Arzt der "liberalen" Medizin, der Psychiater oder Psychologe in ihrem Sprechzimmer bilden keine Alternative zur institutionellen Medizin. Sie gehören demselben Netz an, auch wenn sie von der Institution weit entfernt sind. Zwischen dem "therapeutischen Staat" und der "Medizin in Freiheit" gibt es eine Reihe von Verbindungen und Verweisungen.
Das stille Zuhören des Analytikers im Fauteuil ist dem zwingenden Fragebogen und der sorgfältigen Überwachung des Asyls nicht ganz fremd. Ich glaube nicht, daß man das Attribut "libertär" - ich weiß nicht, ob Szasz es verwendet - einer Medizin zusprechen kann, die nur "liberal" ist, d. h. an einen individuellen Profit gebunden, den der Staat umso lieber stützt, als er selber davon profitiert. Szasz zitiert viele gegen den Staat gerichtete Aktionen dieser liberalen Medizin, die erfreulich waren. Aber mir scheint, daß es sich da um einen kampflustigen Gebrauch - oder großzügigen Mißbrauch - einer Medizin handelt, die vielmehr dazu bestimmt ist, in Anlehnung an den Staat, den ruhigen Gang einer Normalisierungsgesellschaft zu gewährleisten. Noch mehr als den therapeutischen Staat gilt es die Normalisierungsgesellschaft mit ihren institutionellen und privaten Räderwerken zu studieren und zu kritisieren. Robert Castels "Psychoanalyse und gesellschaftliche Macht" scheint mir ein sehr erhellendes Licht auf jenes lückenlose Netz geworfen zu haben, das vom tristen Schlafsaal bis zum gewinnträchtigen Diwan reicht.
Aus dem Französischen von Walter Seitter
DIE GESELLSCHAFTLICHE AUSWEITUNG DER NORM
Ein Gespräch mit Pascale Werner
FRAGE: Stellt Thomas S. Szasz' "Die Fabrikation des Wahnsinns" (Freiburg/Olten 1974) die Geschichte des Wahnsinns in Frage, die Sie vor 15 Jahren geschrieben haben? Während Sie die Linie vom Aussätzigen zum Geisteskranken ziehen, verfolgt Szasz die Linie von der Hexe zum Irren. Wie vereinigen sich diese beiden Zweige in einem gemeinsamen Stamm ?
M. FOUCAULT: Tatsächlich habe ich in "Wahnsinn und Gesellschaft" überhaupt nicht vom Problem des Hexenwesens gesprochen. Ich mißtraute einem Thema, das man regelmässig bei den oberflächlichen Historikern findet: nämlich der Idee, daß man die Irren seinerzeit für Hexer hielt, weil man unfähig war, sie als Kranke zu erkennen, bis dann die Ärzte mit ihrer Gewissenhaftigkeit und Wissenschaftlichkeit die Hexerei als verkannte Geisteskrankheit aufdeckten, um die Hexen fürderhin nicht mehr zu verbrennen, sondern zu behandeln. Ich wollte nach meinem ersten Buch zunächst diesen Mythos zerstören, dann...
Das Interessante an Szasz' Buch liegt nicht darin, daß er sagt: der Irre war früher der Hexer, oder der einstige Hexer ist der heutige Irre. Er sagt etwas historisch und politisch viel Wichtigeres: die Praxis, mit der man bestimmte Leute ausfindig machte, mit der man sie verdächtigte, isolierte, verhörte, mit der man sie als Hexer diagnostizierte - diese Machttechnik, die in der Inquisition zur Anwendung kam, findet man transformiert in der psychiatrischen Praxis wieder. Der Irre ist nicht der Sohn der Hexe, sondern der Psychiater ist der Nachfahre des Inquisitors. Szasz schreibt seine Geschichte auf dem Niveau der Machttechniken, nicht auf der Ebene der pathologischen Identität. Es ist nicht der Kranke, der nachträglich die Wahrheit des Hexers enthüllt; es ist die Hexenverfolgung, die auf die Wahrheit der Psychiatrie vorausweist. Szasz interessiert sich für die Erkennungs- und Vernehmungstechniken. Ich habe mich für die sozio-polizeilichen Isolierungstechniken interessiert. Die beiden Geschichten sind nicht unvereinbar, im Gegenteil.
F.: Zumal Sie ja beide der Medizin einen zentralen Platz in den Mechanismen der gesellschaftlichen Unterdrückung zuweisen. Was bedeutet das für die Strategie der Macht?
M. F.: Wir sind in einen Gesellschaftstyp eingetreten, in dem die Macht des Gesetzes dabei ist, zwar nicht zurückzugehen, aber sich in eine viel allgemeinere Macht zu integrieren, nämlich in die der Norm. Schauen Sie, wie schwer er heute der Strafjustiz fällt, den Akt zu vollziehen, für den sie eigentlich geschaffen ist, nämlich ein Urteil zu fällen. Anscheinend weil die Bestrafung eines Verbrechens keinen Sinn mehr hat, setzt man den Verbrecher immer mehr mit einem Kranken gleich, und die Verurteilung möchte als eine therapeutische Vorschrift gelten. Das ist charakteristisch für eine Gesellschaft, die sich von einer wesentlich am Gesetz orientierten Rechtsgesellschaft zu einer wesentlich an der Norm ausgerichteten Gesellschaft entwickelt.
Das setzt ein ganz anderes Überwachungs- und Kontrollsystem voraus: eine unaufhörliche Sichtbarkeit und permanente Klassifizierung, Hierarchisierung und Qualifizierung der Individuen anhand von diagnostischen Grenzwerten. Die Norm wird zum Kriterium, nach dem die Individuen sortiert werden. Sobald sich nun eine Normgesellschaft entwickelt, wird die Medizin, die ja die Wissenschaft vom Normalen und Pathologischen ist, zur Königin der Wissenschaften. Szasz sagt darum, daß die Medizin die Religion des modernen Zeitalters ist. Ich möchte die Aussage etwas modifizieren: mir scheint, daß die Macht der Religion mit ihren Geboten, Gerichten und Bußen vom Mittelalter bis zum klassischen Zeitalter am Recht ausgerichtet war. Anstatt von einer Entwicklung Religion - Medizin spreche ich lieber von einer Entwicklung Recht - Norm.
F. : Inwiefern berührt die Kritik der Psychiatrie als Form der gesellschaftlichen Kontrolle die Medizin selber?
M. F.: Die Psychiatrie war eine der ersten Formen der Sozialmedizin im 19. Jahrhundert. Szasz' Geschichte der Psychiatrie deckt die gesellschaftliche Funktion der Medizin in einer Normalisierungsgesellschaft auf. Die Macht der Medizin steht nämlich im Zentrum einer derartigen Gesellschaft. Ihre Auswirkungen sind allgegenwärtig: in der Familie, in der Schule, in der Fabrik, in den Gerichten, ob
es sich um die Sexualität, die Erziehung, die Arbeit, das Verbrechen handelt. Die Medizin ist zu einer allgemeinen gesellschaftlichen Funktion geworden, die das Recht durchdringt und in Gang hält. Es konstituiert sich so etwas wie ein juristisch-medizinischer Komplex, der gegenwärtig die wesentliche Form der Macht ist. Aber was der Medizin - im Gegensatz zur Religion - zu einer solchen Durchschlagkraft verhilft, ist ihre Zugehörigkeit zur Institution der Wissenschaft. Man darf sich nicht damit begnügen, die Disziplinarwirkungen der Medizin aufzuzeigen. Wenn die Medizin als Mechanismus der sozialen Kontrolle funktioniert, so weist sie doch auch andere Funktionsweisen auf, nämlich technische und wissenschaftliche. Darum geht es nicht an, von der Medizin und der Psychiatrie in einem Atemzug zu sprechen, da diese mit dem wissenschaftlichen Wissen höchstens ein imaginäres Verhältnis hat. Die Kritik kann nicht auf ein und derselben Ebene liegen.
F.: Wie weit führt eine historische Analyse des Wahnsinns? Szasz analysiert die gesellschaftlichen Produktionsmechanismen der Geisteskrankheit. Er stellt nicht die Frage nach dem Wahnsinn.
M. F.: Wenn der Wahnsinn nicht die in einem nosologischen Tableau klassifizierte Geisteskrankheit ist, sondern eine eigene Wirklichkeit hat, die nicht zu pathologisieren oder medizinisieren ist, so stellt sich die Frage: was ist der Wahnsinn? Die Antipsychiatrie hat sich gerade mit dem zu konfrontieren, was nicht in den Begriffen der Geisteskrankheit oder der gesellschaftlichen Normativität zu fassen ist, was aber gleichwohl ein Problem darstellt. Die Antipsychiatrie stellt innerhalb des ärztlichen Apparates und Bewußtseins die Verarztung des Wahnsinns in Frage. Gerade deswegen tritt die Frage des Wahnsinns nach seiner langen Kolonisierung durch Medizin und Psychiatrie wieder an uns heran. Wie sollen wir uns dazu stellen?
Die überstürzt gauchistischen Diskurse sind ebenso wie die lyrisch antipsychiatrischen und die sorgfältig historischen Diskurse allesamt nur unvollkommene Haltungen gegenüber diesem glühenden Brandherd - gerade wenn sie von der Illusion getragen sind, daß von da aus die "Wahrheit", unsere armselige Wahrheiten in einer verzehrenden Flamme aufleuchten könnten. Es ist eine Illusion zu glauben, daß der Wahnsinn - oder die Delinquenz oder das Verbrechen - von einem absoluten Außen her zu uns spricht. Nichts ist unserer Gesellschaft und ihren Machtwirkungen innerlicher als das Unglück eines irren oder die Gewalttätigkeit eines Kriminellen. Man ist eben schon darinnen, und das Draussen ist ein Mythos. Das von draußen kommende Wort ist ein Traum, an dem man hartnäckig festhält. Man weist den "Wahnsinnigen" die Außenseiterrollen des Künstlers oder des Monsters zu. Dennoch sind sie in einem Netz gefangen, werden und wirken sie innerhalb der Systeme und Strategien der Macht.
F.: Ist unter diesem Gesichtspunkt die historische Analyse nicht eine Rückzugsposition? Und ist nicht diese Rückzugsposition für die blinden Flecken in der Praxis und Theorie von Szasz - etwa hinsichtlich der Psychoanalyse - verantwortlich?
M. F. : Zunächst, ist daran zu erinnern, daß ohne die Psychoanalyse keine Kritik der Psychiatrie, nicht einmal die historische, möglich gewesen wäre. Dann aber muß gesagt werden, daß die Psychoanalyse nicht nur in den Vereinigten Staaten in massiver Form als medizinische Praxis wirkt. Auch wenn sie nicht immer von Ärzten praktiziert wird, so funktioniert sie doch als Therapie, als medizinischer Eingriff. Und insofern ist sie ein Stück des medizinischen Kontrollnetzes, das sich überall etabliert. Gewiß hat die Psychoanalyse auf einem anderen Niveau eine kritische Rolle gespielt - ebenso unzweifelhaft ist, daß sie im Gleichschritt mit der Psychiatrie funktioniert. Dazu muß man unbedingt Robert Castels "Psychoanalyse und gesellschaftliche Macht" (Kronberg 1976) lesen, wo das psychiatrisch-psychoanalytische Netz so gut angeknüpft wird. Die Psychoanalyse muß kein blinder Fleck sein, vielmehr ist sie ebenso wie die Psychiatrie einer spezifischen historischen Destruktion zu unterwerfen.
Die andere Frage: besteht nicht in einer Periode, in der sich die Kämpfe beruhigt haben, die Versuchung zum Rückzug auf die historische Spekulation? Dazu meine ich, daß , sich die historische Analyse nicht auf einer Rückzugsposition befindet, sobald und solange sie auf einem politischen Feld eine instrumentelle Rolle spielt. Die historische Analyse ist ein Mittel, gegen die theoretische Sakralisierung, die wissenschaftliche Tabuisierung anzukämpfen. Man muß sie gegen die alte wie die neue Epistemologie ausspielen, in der es um die Frage ging, was in einer Wissenschaft der harte Kern der Wissenschaftlichkeit sei. Sie hat die Nichtwissenschaftlichkeit der Wissenschaft beim Namen zu nennen oder vielmehr - da das Problem Nichtwissenschaftlichkeit/ Wissenschaftlichkeit nicht das wesentliche ist - nach der Gewalt einer Wissenschaft zu fragen, danach, wie in unserer Gesellschaft die Wahrheitswirkungen einer Wissenschaft gleichzeitig Machtwirkungen sind.
F.: Was bedeutet für Sie der Widerspruch zwischen den theoretischen und den praktisch-politischen Positionen von Thomas S. Szasz?
M. F. : Es gab einmal eine Periode der "ideologischen" Kritik, in der man aufgrund eines mehr oder weniger versteckten Übels denunzierte, diagnostizierte, disqualifizierte. Wenn jemand sprach, wurde in seinem Vokabular, in dem, was er sagte, oder noch besser in dem, was er nicht sagte (im Ungesagten seines Diskurses), etwas ausfindig gemacht, womit man ihn dingfest machen und zum Schweigen bringen konnte. Die Kritik lebte vom Nachweis einer theoretischen Syphilis. Wenn sich dann jemand auf Nietzsche berufen wollte, fühlte er sich zur Erklärung verpflichtet, Nietzsche sei kein Antisemit gewesen.
Ich hingegen ziehe die Technik des geistigen Diebstahls vor. Die Gedanken und Diskurse organisieren sich zwar in Systemen, die allerdings als innere Machtwirkungen zu betrachten sind. Die Wahrheit eines Diskurses liegt nicht in seiner Systematizität, sondern in der Möglichkeit seiner Zersetzung, Umfunktionierung, Umpflanzung. Die historischen Analysen von Szasz können in eine antipsychiatrische Praxis eingehen. Szasz hat die tiefe Übereinstimmung zwischen den Kontrollfunktionen der Medizin und Psychiatrie auf der einen Seite und den seit dem 19. Jahrhundert installierten staatlichen Kontrollstrukturen auf der andern Seite genau wahrgenommen. Er scheint sich aber der Illusion hinzugeben, daß die liberale Medizin damit nichts zu tun hat, wo sie doch die Verlängerung dieser staatlichen Strukturen ist, ihr Stützpunkt und ihre Antenne.
F. : Mißfallen Ihnen nicht Szasz' Positionen über das "Potential der privaten Psychiatrie"?
M. F.: Das Problem des privaten Sprechzimmers bei Szasz ist ganz einfach: für ihn besteht die Irreführung der Psychiatrie darin, daß sie den Wahnsinn, das Leiden des Irren für eine Krankheit erklärt. Und daß sie damit dem Irren einredet, er brauche einen Arzt. Er will also sagen: "Wenn ich nicht als Arzt eingreifen will, wenn ich ein freies Gespräch mit einem freiwilligen Klienten nicht für eine ärztliche Handlung ausgebe, beteilige ich mich nicht an jenem Übergriff. Ich höre den Klienten an, ich befreie ihn vom pathologischen Schema; ich empfange ihn nicht als Kranken und ich präsentiere mich nicht als Arzt; ich verkaufe ihm nur meine Zeit, und er bezahlt mich aufgrund einer freien Vereinbarung."
Man könnte viel sagen gegen diesen Gedankengang und die von ihm legitimierten Gewinnmöglichkeiten. Es handelt sich um ein ausschließlich von Zweien gebildetes und strikt über Geld vermitteltes Zusammensein. Während die Psychiater ihren Klienten-Kunden die Rollen von Kranken teuer verkauften, verkauft Szasz Leuten, die sich für Kranke halten, die Nicht-Krankheit. Das Problem ist, ob Wertvolles immer verkauft werden muß.
Aus dem Französischen von Walter Seitter
HEXEREI UND WAHNSINN
Ein Gespräch mit Roland Jaccard
FRAGE: Seit etwa 20 Jahren entfaltet Thomas S. Szasz das Thema der grundlegenden Analogien zwischen der Verfolgung der Häretiker und der Hexen einstmals und der Verfolgung der Irren und Geisteskranken heute. Das ist auch das Hauptthema des Buches "Die Fabrikation des Wahnsinns", das den Übergang vom theologischen Staat zum therapeutischen Staat aufzeigt. Die Psychiater und überhaupt die für geistige Gesundheit Zuständigen haben es demnach fertiggebracht, die Inquisition wieder zum Leben zu erwecken und als neues wissenschaftliches Allheilmittel zu verkaufen. Scheint Ihnen die Parallele zwischen der Inquisition und der Psychiatrie historisch haltbar?
M. FOUCAULT: Die Hexen als verkannte Irre, die dem Scheiterhaufen überantwortet wurden, weil es unglücklicherweise noch keine Psychiater gab - wer wird uns von diesem Gemeinplatz befreien, der noch immer in so vielen Büchern herumspukt?
Szasz hat nun mit Recht darauf hingewiesen, daß die historische Kontinuität nicht von der Hexe zur Kranken, sondern von der Institution der Hexerei zur Institution der Psychiatrie geht. Es ist nicht so, daß die Hexe mit ihren armseligen Hirngespinsten und dunklen Kräften endlich durch eine späte aber wohltätige Wissenschaft als Geisteskranke erkannt worden ist. Szasz zeigt, daß sich in den Überwachungen, Vernehmungen und Verfügungen der Inquisition ein bestimmter Machttyp durchsetzte, der auch heute nach einigen Transformationen uns verhört, unsere Wünsche und Träume befragt, um unsere Nächte besorgt ist, Geheimnissen nachjagt und Grenzlinien zieht, die Anomalen kennzeichnet, Reinigungen vornimmt und Ordnungsfunktionen wahrnimmt.
Hoffentlich hat Szasz für immer das Problem von der Frage, ob die Hexen Wahnsinnige waren, auf die Frage verschoben, inwiefern die Machtwirkungen der Schnüffelarbeit, die die Inquisitoren (mit langen Schnauzen und spitzen Zähnen) verrichteten, noch im psychiatrischen Apparat zu erkennen sind. "Die Fabrikation des Wahnsinns" scheint mir ein wichtiges Buch für die Geschichte der komplexen Wissens- und Machttechniken.
F.: In "Die Fabrikation des Wahnsinns" beschreibt Thomas S. Szasz die unersättliche Neugier der Inquisitoren hinsichtlich der sexuellen Träume und Handlungen der Opfer, der Hexen, und vergleicht sie mit derjenigen der Psychiater. Scheint Ihnen dieser Vergleich gerechtfertigt?
M. F.: Man wird sich wohl der "Marcusereien" und "Reichianismen" entledigen müssen, da die uns einreden, daß die Sexualität von allen Dingen der Welt dasjenige sei, das von unserer "bürgerlichen", "kapitalistischen", "heuchlerischen", "viktorianischen" Gesellschaft am hartnäckigsten "unterdrückt" wird. Seit dem Mittelalter gibt es nichts, was mehr studiert, erfragt, zum Geständnis gezwungen, ans Tageslicht und in den Diskurs gezogen und in Lobpreisungen besungen wird. Keine Zivilisation hat eine gesprächigere Sexualität gehabt als die unsere. Und dennoch glauben viele noch immer, subversiv zu sein, wenn sie dem Geständniszwang gehorchen, der uns Menschen des Abendlandes seit Jahrhunderten unterwirft, indem er uns nötigt, alles über unser Begehren zu sagen. In Inquisition, Beichte, Gewissensforschung, Seelenführung, Erziehung, Medizin, Psychoanalyse und Psychiatrie - immer stand die Sexualität unter dem Verdacht, eine entscheidende und tiefe Wahrheit über uns zu bergen. Sag uns, was deine Lust ist, und verbirg uns nichts von dem, was sich zwischen deinem Herzen und deinem Geschlecht abspielt: dann werden wir wissen, was du bist, und dir sagen, was du wert bist.
Ich glaube, daß Szasz richtig gesehen hat, wie die hochnotpeinliche Vernehmung der Sexualität nicht einfach ein krankhaftes Interesse der von ihren eigenen Wünschen geplagten Inquisitoren war, sondern wie sich darin ein moderner Typ der Macht und Kontrolle über die Individuen abzeichnet. Szasz ist kein Historiker, und man kann natürlich einige seiner Behauptungen bestreiten. Aber in einem Augenblick, in dem der Diskurs über die Sexualität so viele Historiker fasziniert, war es gut, daß ein Psychoanalytiker das Verhör über die Sexualität historisch nachzeichnet. Und viele Intuitionen von Szasz treffen sich mit Le Roy Laduries bemerkenswertem "Montaillou, village occitan".
F. : Glauben Sie wie Szasz, daß man, um die institutionelle Psychiatrie - und alle anderen Veranstaltungen zur Förderung der geistigen Gesundheit - zu verstehen, die Psychiater studieren muß und nicht die angeblichen Kranken?
M. F.: Wenn es sich um das Studium der institutionellen Psychiatrie handelt, ist das selbstverständlich. Aber ich meine, daß Szasz weiter geht. Es ist heute Mode, eine Geschichte der Wahnsinnigen schreiben zu wollen, auf die andere Seite zu wechseln und den großen Fluchtbewegungen oder den subtilen Rückzugsbewegungen des Wahnsinns nachzugehen. Wenn man aber behauptet, ganz Ohr zu sein und die Wahnsinnigen selber sprechen zu lassen, akzeptiert man bereits die bestehende Grenzziehung. Besser stellt man sich an den Punkt, an dem die Maschine funktioniert, die Qualifikationen und Disqualifikationen verteilend die Wahnsinnigen und die Nichtwahnsinnigen voneinander absetzt. Der Wahnsinn ist nicht weniger ein Machteffekt als der Nichtwahnsinn; er streift nicht durch die Welt wie ein flüchtiges Tier, dessen Lauf erst in den Käfigen des Asyls zum Stillstand kommt. Wie in einer unendlichen Spirale ist er eine taktische Antwort auf die ihn umzingelnde Taktik. In einem andern Buch von Szasz, "Geisteskrankheit - ein moderner Mythos" (Freiburg/Olten 1972) gibt es ein Kapitel, das mir exemplarisch scheint: danach ist die Hysterie ein Produkt der psychiatrischen Macht und gleichzeitig eine Erwiderung auf sie und ihre Falle.
F.: Wenn der therapeutische Staat den theologischen Staat abgelöst hat und wenn die Medizin und die Psychiatrie heute die zwingendsten und hinterhältigsten Formen der sozialen Kontrolle geworden sind, wäre es dann in einer individualistischen und freiheitlichen Perspektive wie der von Szasz nicht notwendig, für eine Trennung von Staat und Medizin zu kämpfen?
M. F.: Da gibt es für mich eine Schwierigkeit. Ich frage mich, ob Szasz nicht die Macht zu eng mit dem Staat identifiziert.
Vielleicht erklärt sich diese Identifizierung aus zwei Erfahrungen von Szasz: einer europäischen Erfahrung im totalitären Ungarn, wo alle Machtformen und -mechanismen eifersüchtig vom Staat kontrolliert wurden, und jener amerikanischen Überzeugung, daß die Freiheit dort beginnt, wo die zentralisierte Intervention des Staates aufhört. Ich glaube tatsächlich nicht, daß die Macht nur der Staat ist oder daß der Nicht-Staat schon die Freiheit ist. Szasz hat recht, wenn er sagt, daß die Schaltkreise der Psychiatrisierung und Psychologisierung, auch wenn sie über die Eltern oder die unmittelbare Umwelt laufen, schließlich in den großen Komplex aus ärztlichen und staatlichen Institutionen münden. Aber der "freie" Arzt der "liberalen" Medizin, der Psychiater oder Psychologe in ihrem Sprechzimmer bilden keine Alternative zur institutionellen Medizin. Sie gehören demselben Netz an, auch wenn sie von der Institution weit entfernt sind. Zwischen dem "therapeutischen Staat" und der "Medizin in Freiheit" gibt es eine Reihe von Verbindungen und Verweisungen.
Das stille Zuhören des Analytikers im Fauteuil ist dem zwingenden Fragebogen und der sorgfältigen Überwachung des Asyls nicht ganz fremd. Ich glaube nicht, daß man das Attribut "libertär" - ich weiß nicht, ob Szasz es verwendet - einer Medizin zusprechen kann, die nur "liberal" ist, d. h. an einen individuellen Profit gebunden, den der Staat umso lieber stützt, als er selber davon profitiert. Szasz zitiert viele gegen den Staat gerichtete Aktionen dieser liberalen Medizin, die erfreulich waren. Aber mir scheint, daß es sich da um einen kampflustigen Gebrauch - oder großzügigen Mißbrauch - einer Medizin handelt, die vielmehr dazu bestimmt ist, in Anlehnung an den Staat, den ruhigen Gang einer Normalisierungsgesellschaft zu gewährleisten. Noch mehr als den therapeutischen Staat gilt es die Normalisierungsgesellschaft mit ihren institutionellen und privaten Räderwerken zu studieren und zu kritisieren. Robert Castels "Psychoanalyse und gesellschaftliche Macht" scheint mir ein sehr erhellendes Licht auf jenes lückenlose Netz geworfen zu haben, das vom tristen Schlafsaal bis zum gewinnträchtigen Diwan reicht.
Aus dem Französischen von Walter Seitter