Ein schwäbischer Rebell in Berlin
von Sylvia Zeller
Den „Schwaben in Berlin“, man mag es nicht glauben, ist ein eigenes, und sogar vergleichsweise umfangreiches, Lemma bei Wikipedia gewidmet, und bezeichnet das soziologische Stereotyp eines lokalen Schwabenhasses, das seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts in immer wieder neuen Schüben über die Stadt hinwegrollte. Beim Lesen des Artikels werde ich den Eindruck nicht los, dass das ganze Gerede von Schwabismus und Feindseligkeit gegen Schwaben bestenfalls eine in gewissen Kreisen gepflegte satirisch zu verstehende Attitüde, im wesentlichen jedoch einen Ausdruck medialer Übertreibungen darstellt, die dem Abgleich mit der alltäglichen Realität in Berlin, wo es niemanden interessiert, von welcher Weltgegend der Nachbar gerade hierher gefunden hat, keineswegs standhält.
Ich selber als jemand, der seine prägenden Jugendjahre inmitten des schwäbischen Mittelstandes und, ärger noch, im überaus pietistisch geprägten Heilbronn verbracht hat, und der niemals der Versuchung nachgeben würde, in diese nur scheinbar geordnete Welt zurückzukehren, mag „die“ Schwaben und kann diese Sympathie umso mehr pflegen, als ich nie einer von ihnen war und sein werde, also erfreulich unbelastet. Zudem lässt sich feststellen, dass inmitten der sparsamen, spiessigen und die Kehrwoche pflegenden Schwaben es immer auch rebellische und aufmüpfige Gestalten gab, man denke etwa an Daniel Schubart, an Ludwig Pfau oder an Fritz Bauer.
Mein allerliebster Lieblingsschwabe in Berlin aber ist und bleibt René Talbot, der über die Jahre, seit ich ihn im November 1997 das erste Mal traf, zu nichts weniger wurde als zu meiner politischen Heimat. Etwas später, im Jahr darauf, gründeten wir zusammen mit einigen anderen Sozis im Willy-Brandt-Haus die „Futuristen in der SPD“. Da unser politisches Manifest nicht im redaktionellen Teil des Vorwärts erscheinen durfte, kaufte René kurzerhand eine ganze Anzeigenseite dafür. Was als ein grosser politischer Spass begann, Gestalt annahm in Artikeln, Veranstaltungen, Radiosendungen, Interventionen, Gesprächen, Treffen … wurde für mich zum wichtigen und sinnstiftenden Moment in meinem Leben und trug mich sicher, auch durch sehr schwierige und herausfordernde Zeiten. Konstante Themen waren das Recht auf Faulheit und das Eintreten für ein bedingungsloses Grundeinkommen, der Kampf gegen psychiatrische Gewalt und für die Abschaffung von Zwangspsychiatrie, sowie einige Jahre später auch das Konzept freiwilliger Elternschaft, das wir zuerst mit dem Artikel: „Hurrah, die anonyme Geburt ist da!“ formulierten. Ich glaube, das war der Punkt, wo die SPD endgültig die Faxen dicke hatte und die Futuristen aus der Partei wieder hinauskomplimentierte, nachdem man uns zur Gründung seinerzeit beglückwünscht hatte mit dem Bemerken, wir mögen „zur Zukunftsfähigkeit der SPD beitragen.“ Unsere Idee einer selbstbestimmten Elternschaft und der Versuch, Lust ohne Strafe zu denken, überschritt deutlich eine Schmerzgrenze bei den Genossen. Dagegen war unsere Forderung von 2001, Gerhard Schröder aus der Partei auszuschliessen, offenbar harmlos gewesen. 2001 proklamierten René und ich im Rahmen eines Themenwochenendes zum Recht auf Faulheit an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, das wir mitinitiiert hatten, das Jahrhundert der Parasiten. Dass das Strafregime verschwindet und Emanzipation sich verwirklichen kann, hatten wir damals im Blick. Und obwohl anschliessend die sogenannten Hartz-Reformen und die Agenda 2010 beschlossen wurden, scheint es von heute aus gesehen doch so, als hätten unsere Ideen Raum bekommen: Sanktionen wurden ausgesetzt, Bürgergeld kommt, ein Kinder-BGE ist in Planung. Zumindest lässt sich sagen, dass das Strafregime überall bröckelt in diesem Land.
Von René habe ich gelernt, dass man einfach anfangen kann, politisch zu handeln. Jetzt sofort. Dass es immer Spiel-Räume gibt. Und dass man sich einfach an den Computer setzen kann und weiss: Es wird ein gemeinsamer Text entstehen.
Ich kenne keinen anderen Menschen, der es mit der Idee der persönlichen Freiheit des Einzelnen so ernst meint wie er, wissend, dass Freiheit immer auch „Arbeit“ bedeutet. Dem die Durchsetzung der Menschenrechte so sehr am Herzen liegt. Der sich die Idee von Toleranz, von nicht-identitärem Denken, von einer emanzipatorischen Gesellschaft auf die Fahnen geschrieben hat, und der bei all dem immer Mensch geblieben ist: „Immer radikal, niemals konsequent.“ (Walter Benjamin)
Mensch und Rebell. Mit wenigen Menschen habe ich so viel gelacht und Spass gehabt, in all unserem Treiben.
Danke für Dich, lieber René, das Geschenk, in Dir meine politische Heimat finden zu können.
Danke für Deinen offenen, sprühenden und lebendigen Geist, Deine Unterstützung, Deine Freundlichkeit, Deinen Elan, Deine Zuversicht, Deine Verrückheit, Dein Groß-Denken, Deine Freundschaft.
von Sylvia Zeller
Den „Schwaben in Berlin“, man mag es nicht glauben, ist ein eigenes, und sogar vergleichsweise umfangreiches, Lemma bei Wikipedia gewidmet, und bezeichnet das soziologische Stereotyp eines lokalen Schwabenhasses, das seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts in immer wieder neuen Schüben über die Stadt hinwegrollte. Beim Lesen des Artikels werde ich den Eindruck nicht los, dass das ganze Gerede von Schwabismus und Feindseligkeit gegen Schwaben bestenfalls eine in gewissen Kreisen gepflegte satirisch zu verstehende Attitüde, im wesentlichen jedoch einen Ausdruck medialer Übertreibungen darstellt, die dem Abgleich mit der alltäglichen Realität in Berlin, wo es niemanden interessiert, von welcher Weltgegend der Nachbar gerade hierher gefunden hat, keineswegs standhält.
Ich selber als jemand, der seine prägenden Jugendjahre inmitten des schwäbischen Mittelstandes und, ärger noch, im überaus pietistisch geprägten Heilbronn verbracht hat, und der niemals der Versuchung nachgeben würde, in diese nur scheinbar geordnete Welt zurückzukehren, mag „die“ Schwaben und kann diese Sympathie umso mehr pflegen, als ich nie einer von ihnen war und sein werde, also erfreulich unbelastet. Zudem lässt sich feststellen, dass inmitten der sparsamen, spiessigen und die Kehrwoche pflegenden Schwaben es immer auch rebellische und aufmüpfige Gestalten gab, man denke etwa an Daniel Schubart, an Ludwig Pfau oder an Fritz Bauer.
Mein allerliebster Lieblingsschwabe in Berlin aber ist und bleibt René Talbot, der über die Jahre, seit ich ihn im November 1997 das erste Mal traf, zu nichts weniger wurde als zu meiner politischen Heimat. Etwas später, im Jahr darauf, gründeten wir zusammen mit einigen anderen Sozis im Willy-Brandt-Haus die „Futuristen in der SPD“. Da unser politisches Manifest nicht im redaktionellen Teil des Vorwärts erscheinen durfte, kaufte René kurzerhand eine ganze Anzeigenseite dafür. Was als ein grosser politischer Spass begann, Gestalt annahm in Artikeln, Veranstaltungen, Radiosendungen, Interventionen, Gesprächen, Treffen … wurde für mich zum wichtigen und sinnstiftenden Moment in meinem Leben und trug mich sicher, auch durch sehr schwierige und herausfordernde Zeiten. Konstante Themen waren das Recht auf Faulheit und das Eintreten für ein bedingungsloses Grundeinkommen, der Kampf gegen psychiatrische Gewalt und für die Abschaffung von Zwangspsychiatrie, sowie einige Jahre später auch das Konzept freiwilliger Elternschaft, das wir zuerst mit dem Artikel: „Hurrah, die anonyme Geburt ist da!“ formulierten. Ich glaube, das war der Punkt, wo die SPD endgültig die Faxen dicke hatte und die Futuristen aus der Partei wieder hinauskomplimentierte, nachdem man uns zur Gründung seinerzeit beglückwünscht hatte mit dem Bemerken, wir mögen „zur Zukunftsfähigkeit der SPD beitragen.“ Unsere Idee einer selbstbestimmten Elternschaft und der Versuch, Lust ohne Strafe zu denken, überschritt deutlich eine Schmerzgrenze bei den Genossen. Dagegen war unsere Forderung von 2001, Gerhard Schröder aus der Partei auszuschliessen, offenbar harmlos gewesen. 2001 proklamierten René und ich im Rahmen eines Themenwochenendes zum Recht auf Faulheit an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, das wir mitinitiiert hatten, das Jahrhundert der Parasiten. Dass das Strafregime verschwindet und Emanzipation sich verwirklichen kann, hatten wir damals im Blick. Und obwohl anschliessend die sogenannten Hartz-Reformen und die Agenda 2010 beschlossen wurden, scheint es von heute aus gesehen doch so, als hätten unsere Ideen Raum bekommen: Sanktionen wurden ausgesetzt, Bürgergeld kommt, ein Kinder-BGE ist in Planung. Zumindest lässt sich sagen, dass das Strafregime überall bröckelt in diesem Land.
Von René habe ich gelernt, dass man einfach anfangen kann, politisch zu handeln. Jetzt sofort. Dass es immer Spiel-Räume gibt. Und dass man sich einfach an den Computer setzen kann und weiss: Es wird ein gemeinsamer Text entstehen.
Ich kenne keinen anderen Menschen, der es mit der Idee der persönlichen Freiheit des Einzelnen so ernst meint wie er, wissend, dass Freiheit immer auch „Arbeit“ bedeutet. Dem die Durchsetzung der Menschenrechte so sehr am Herzen liegt. Der sich die Idee von Toleranz, von nicht-identitärem Denken, von einer emanzipatorischen Gesellschaft auf die Fahnen geschrieben hat, und der bei all dem immer Mensch geblieben ist: „Immer radikal, niemals konsequent.“ (Walter Benjamin)
Mensch und Rebell. Mit wenigen Menschen habe ich so viel gelacht und Spass gehabt, in all unserem Treiben.
Danke für Dich, lieber René, das Geschenk, in Dir meine politische Heimat finden zu können.
Danke für Deinen offenen, sprühenden und lebendigen Geist, Deine Unterstützung, Deine Freundlichkeit, Deinen Elan, Deine Zuversicht, Deine Verrückheit, Dein Groß-Denken, Deine Freundschaft.